Berliner Psychologe Jacob Drachenberg zu gesunder Stressbewältigung
Ein Gespräch mit Jacob Drachenberg, Psychologe und Coach für gesunde Stressbewältigung
In Berlin erzählt man sich gerne, dass man Stress hat. Dabei bietet die Hauptstadt viele Angebote für den gekonnten Stressabbau. FOTO: ANDREYPOPOV / ISTOCKPHOTO
Dagmar Trüpschuch
Berliner Morgenpost: Jacob Drachenberg, wie sind Sie Coach für gesunde Stressbewältigung geworden?
Jacob Drachenberg: Ich habe 15 Jahre lang Wasserball als Leistungssport betrieben, da ging es schon permanent um Erfolge. Später habe ich parallel Psychologie an der HU-Berlin studiert, da habe ich die theoretische und wissenschaftliche Schiene der Stressentstehung kennengelernt, nebenbei habe ich gearbeitet. Vor knapp sechs Jahren, mit 23, bin ich selbst in ein stressbedingtes Burnout reingeschlittert. Plötzlich hatte sich das innere Feuer, das mich sonst motivierte, gegen mich gedreht. Ich musste pausieren. Da habe ich mich selbst rausgebuddelt und gemerkt, dass man lernen kann, mit Stress umzugehen. Ich habe erkannt, dass Stress so lange gut ist, wie er mich motiviert, mich fokussiert oder zu einer besonderen Leistung bringt. Aber wenn wir den Stress nicht selbst lenken, dann lenkt er uns.
Warum leiden immer mehr Menschen unter Stresssymptomen?
Wir hinterfragen heutzutage viel mehr, ob hinter gesundheitlichen Problemen Stress stecken könnte. Aber es ist ja noch nicht geklärt, ob es wirklich mehr Stress gibt. Der Erste oder der Zweite Weltkrieg und die Jahrzehnte danach, die waren doch auch extrem stressig. Fakt ist: Die Welt dreht sich immer schneller und wir leben in einer Multioptionsgesellschaft. Wir müssen viel mehr Entscheidungen treffen, weil heutzutage viel mehr möglich ist. Das setzt viele unter Druck.
Berlin gilt als stressige Stadt. Warum?
Zu Berlin gehört, dass jeder gerne erzählt, dass er Stress hat. Denn in vielen Kreisen gilt ein bestimmter Stresslevel als Gradmesser für Wichtigkeit. Wenn ich viel Stress habe, habe ich wichtige Projekte und Termine. Wenn ich hingegen sage, dass ich total entspannt bin, kommt die Meinung auf, dass es nicht so wichtig sein kann, was ich mache. Zudem entsteht Stress durch Vergleiche. Wenn ich ein Start-up gründe und sehe, dass andere Start-ups kurz nach der Gründung schon an der Börse sind, habe ich alleine deswegen schon mehr Stress, weil hier krassere Erfolgsgeschichten unterwegs sind.
Jacob Drachenberg will, dass Stress proaktiv gestaltet wird. FOTO: JAKOB NAWKA
Aber Berlin bietet mehr – auch viele Möglichkeiten zum Stressabbau.
Da haben wir den Punkt – man hat viele Möglichkeiten, was Berlin als stressige Stadt widerspiegelt. Leute sind überfordert, weil sie jeden Abend etwas unternehmen können. Fitnessclubs, Saunen, Yogakurse – bei all diesen Optionen wird die Wahrscheinlichkeit, die beste Wahl getroffen zu haben, immer geringer. Dabei ist es eine Mega-Ressource, so viel Auswahl zu haben – wenn man das so für sich nimmt. Dass man sagt, cool, ich habe hier 100 Fitnesscenter zur Auswahl und kann für mich das richtige finden. Wenn man die Vielfalt als Positivität nimmt und nicht als Überforderung, dann ist es mega, diese Ressource zu haben. Man muss der Designer der eigenen Entspannung sein und diese proaktiv angehen.
Wie das?
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Entspannung und Stressabbau. Leute, die nicht entspannen können, brauchen erst einmal Stressabbau. Stress ist dafür gemacht, dass es eine Lösung gibt. Er ist da, um zu kämpfen und zu flüchten. Mit Sport und Bewegung können wir diesen Modus auslösen und kommen danach erst in die Entspannung. Das kann man auch proaktiv angehen. Es gibt viele Leute, die machen zum Stressabbau Sport nach der Arbeit, ich habe bereits heute morgen 30 Minuten Sport getrieben. So starte ich schon mit einem anderen Stressniveau in den Tag und habe mehr Ressourcen, wenn Druck aufkommt.
Sie nennen das Stresskompetenz.
Eine hohe Stresskompetenz bedeutet, dass ich meinen Stress proaktiv gestalten kann. Ein Beispiel: Die positive Aufregung bevor ich einen Vortrag für einen DAX-Konzern halte. Ich fühle mich einerseits unter Druck, brauche aber eine gewisse innerliche positive Anspannung auch, um einen guten Vortrag halten zu können. Mit Stresskompetenz erkenne ich, ob dieser Stress mich motiviert, ob er förderlich ist, mich in einen energetischen Modus bringt. Oder ob er eher dazu führt, dass ich klein werde und ein flaues Gefühl habe. Ein Reiz kann verschiedene Reaktionen auslösen. Es geht darum, den Stress einzuordnen und ihn zu verstehen. Hohe Stresskompetenz bewirkt genau das, zu sehen, was von außen und innen auf mich einwirkt, und dann den „magic spot“ zu treffen, sodass mein Stresslevel für mich förderlich ist und ich ihn funktional nutzen kann. Zudem bedeutet Stresskompetenz, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann. Und proaktiv für meine Bedürfnisse einzutreten, die im Bereich des Machbaren liegen.